
Es ist soweit, der Heiligabendmorgen ist da, und auch hier ist Familientrubel und besinnliche Geschäftigkeit, Katzengepiepse und erwartungsfrohes Hundegeschnuffel und dies noch vergessen und jenes noch spontan eingefallen, und das alles selbst mit ausgeschalteten Lampen hell erleuchtet von strahlenden Kinderaugen und musikalisch beschallt von ab etwa sechs Uhr morgens halbminütig melodiös getrötetem „WANN IST DENN ENDLICH BESCHERUNG?!?“ Herrlich!

Miss Sophie hat ein Gedicht versprochen, und sie hat wirklich sehr, sehr eifrig daran gearbeitet, die kleine Poetin. Nach wenigen Stunden schon präsentierte sie mir einen vom heiligen Geist der Weihnacht regelrecht durchspukten ersten Text:
O Käsebaum, o Käsebaum
Wie gelb ist deine Rinde
Du schmeckst nicht nur zur Sommerzeit
Nein, auch im Winter, wenn’s nicht schneit
O Käsebaum, o Käsebaum
Wie gelb ist deine Rinde
Ich war begeistert und applaudierte, gab aber nach vollumfänglicher Äußerung meines großen Entzückens zu bedenken, dass mir die Verse vage bekannt vorkämen und dass außerdem der Text dafür, dass er lyrisch sein soll, vielleicht doch ein ganz klein wenig prosaisch daherkommt. Miss Sophie reagierte mit allen Anzeichen der Entrüstung ob meines pädagogischen Faux Pas und verschwand im Adventsschächtelchen Nummer 11 (sie sagte, das fände sie aus unerfindlichen Gründen besonders inspirierend), um sich an einen weiteren Versuch zu wagen.

Dieser lautete dann, nur wenige Stunden später (drei, wenn ich mich recht erinnere):
Ihr Mäuselein kommet, o kommet doch all
Zur Küche herkommet, zum Kühlschrankball
Ihr redlichen Mäuse steht hungrig davor
Und dann erklingt jubelnd ein piepsiger Chor
Leider stand ich auf meiner Leitung und fragte, was denn für ein Kühlschrankball, meines Wissens seien Kühlschränke zumeist eher eckig, nicht rund. Ich fand heraus, dass Miss Sophie ihr kleines spitzes Mäusegesicht höchst eindrucksvoll zur Faust ballen kann, aber sie sagte nichts, sondern entschwand, die Schwanzspitze (mit der sie schreibt) mangels Tintenfass noch mal kräftig ins Fläschchen mit der Stempelkissennachfüllfarbe getunkt, und richtete sich diesmal im Kästchen 22 mäuslich ein.

Stille Nacht, mausige Nacht
Alles schläft, einsam wacht
Nur ein hungriges Mäusepaar
Alle andern warn vor ihnen da
Ist kein Krümel mehr übrig!
Ist kein Krümel mehr da!
Nach dem Vorpiepsen starrte sie mich erwartungsvoll an.
„Sehr schön“, sagte ich, artig angetan.
„Ja wirklich?“, fragte sie.
„Ja doch!“, sagte ich. Die Metrik, Anlaute, Ablaute, Hin- und Weglaute, die kleinen Vershüpfer, sogar eine kleine Alliteration entdecke man mit ein wenig Mühe und einer Prise gutem Willen, es sei alles in allem überhaupt nichts daran zu beanstanden. Also wirklich sehr schön und echt richtig toll. Das Kästchen Nummer 22 sei offenbar sehr zu empfehlen, darin dichte es sich ohrenscheinlich ganz hervorragend.
Miss Sophie wirkte, als sei sie nur eingeschränkt überzeugt. „Aber?“, wollte sie wissen.
Nichts aber.
Aber weil sie mit typischer Sophiesturheit darauf bestand … ich erzählte ihr also von Jesus, der für die Mensch- und Mausheit am Kreuz gestorben sei. Der das Leid der Welt so tief empfunden habe. Der sehend in Schmerz und Tod gegangen sei, auch und vielleicht vor allem für die, die es auf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten bis neunten Blick gar nicht „wert“ seien. Von der Liebe. Von Vergebung. Und von der Auferstehung. Mich deuchte beim Erzählen kurz, die Auferstehung hätte eher mit Ostern zu tun als mit Weihnachten, aber immerhin … das Wesentliche, glaube ich, habe ich irgendwie grob umrissen, und das als Religionsveganer. Also spirituell chronisch unterernährt, da kann man keinen Marathon erwarten.
„Na ja“, schloss ich, nachdem ich es salbungsvoll und mit erfreulich wenig Gestammel über die Bühne gebracht hatte, unter dem forschenden Blick zweier tiefschwarzer Mäuseaugen. „Und darum geht es irgendwie bei Weihnachten. Um die Geburtsstunde jener Liebe, die keine Grenzen kennt. Weißtu?“
„Ich glaube, ich verstehe“, sagte sie leise und ein wenig feierlich und trippelte von dannen, so gut es sich eben davontrippelt, wenn einem faule Maikes keine Hinterpfoten an das runde Hinterteil gefilzt haben. Igelte sich in einer leergefressenen Keksdose ein und schrieb. Und diesmal war sie erstaunlich schnell wieder zurück.

Alle Jahre wieder
Kommt das Käsekind
Auf die Erde nieder
Wo wir Mäuse sind
Kehrt mit seinem Segen
Ein in jedes Nest
Sagt zu allen Mäuschen
„Kommt zu mir und fresst“
Reicht auch mir sein Händchen
Die Nase, den Fuß, das Bein
Ich lass mich nicht lumpen
Und beiße herzhaft rein.
Mir blieb der Mund offen stehen, dass man einen Spekulatius hochkant hätte hineinstecken können.
„Brauchst gar nichts zu sagen“, erklärte mir das Mäusekind zufrieden. „Ich habe alles genau begriffen, und ich weiß, dass das jetzt gut ist. Schreib das auf deinem komischen Blob oder wie das heißt, damit alle es lesen können. Das Käsekind liebt einen jeden von uns, besonders, wenn wir das gar nicht verdienen, also liebt es die am meisten, die es auffressen. Und das mache ich. Wenn ich es sehe, dann fresse ich so viel von ihm, bis ich fast platze. Und dann gibt es Geschenke. So geht Weihnachten!“
Und mit diesen Worten ging sie schlafen. Aufgeregt, von der eigenen Klugheit sehr erfreut und ohne Abendkeks, was sie sonst nie tut. Weil dann mehr Käsekind in ihren Bauch passt und sie seinem Opfer die gebührende Ehre erweisen will.
Ich hoffe, der Weihnachtsmann traut sich zu uns. Und wenn er es tut, dann hoffe ich, ihm passiert nichts.
Feiert ganz herrlich und habt eine friedliche und entspannte Zeit zwischen den Jahren! Und danke für eure Freude an Miss Sophies Adventskalender, das war wirklich wunderschön.