Zu ausschweifend, um bei Nina (die sich doch sonst nie ausufernden Worten verweigert, tsss) als Kommentar gepostet zu werden – darum jetzt einfach hier.)
Liebe Nina,
Du wirst Deinen Mut wiederfinden. Und selbst dann, wenn er Dir immer wieder abhandenzukommen droht, wirst Du die Angst überwinden. Nicht die in Deinem Herzen, aber in dem, was Du tust.
Angst, Sorge um seine Kinder kauft man sich ein, sobald man sie zur Welt bringt und sich auf dieses neue Leben einlässt, das man – hoffentlich – bis zur Schwelle einer Zukunft begleiten darf, die noch jenseits der eigenen liegt. Wie wäre Liebe möglich ohne Sorge, ohne Furcht vor dem Schmerz? Geht nicht, kriegt man nicht, ausverkauft beziehungsweise noch nicht erfunden.
Lisa schrieb es weiter oben: Wir sind aufgewachsen in einem ungeheuren Frieden, in großer Sicherheit. Genau so ist es. Und wir haben uns daran gewöhnt. Wir wünschen, dass das Leben für alle so sein möge, denn so ist es wirklich schön, auch wenn viele Menschen das erst wirklich begreifen, sobald es bedroht ist (das subjektive Glücksempfinden wird ja nicht zwingend bei jedem deutlich gesteigert, nur weil er Privilegien genießt, die ihm als solche gar nicht bewusst sind 😉 ). Jetzt weht uns ein kalter Wind um die Ohren, und es passiert nicht ganz weit weg, es rückt näher, er bläst bis in unser Wohnzimmer, und wir ahnen, dass dieser privilegierte Status massiv bedroht ist. Der Frieden, den wir für so selbstverständlich zu nehmen neigen, solange er da ist, und der es leider nicht ist. Es ist ein noch junger Frieden, gerade mal etwas über siebzig Jahre. Vermutlich steckt die Angst vor diesem kalten Wind auch hinter der Angst vor den Flüchtlingen – es wird sich etwas verändern, und da wir es weit überdurchschnittlich gut haben, wird es mit relativer Sicherheit zu unserem Nachteil sein.
Ich glaube nicht, dass die Welt zum Teufel geht, und ich glaube nicht, dass sie schlimmer ist als je zuvor. Ich glaube, dass wir das Unglück haben, am Beginn interessanter Zeiten zu leben. Wird man hineingeboren in schwierige Zeiten, ist man es gewöhnt und hofft und erlebt womöglich sogar, wie es besser wird, wie es einen Zugewinn gibt. Wir hingegen erleben aus der Gewöhnung daran, dass es empörend ist, wenn wir uns keinen Urlaub leisten können oder an einem Brückentag arbeiten müssen oder der Bus drei Minuten zu spät kommt oder uns ein Blödmann den Mittelfinger gezeigt hat, daran gewöhnt, dass ein persönliches Unglück etwas Bemerkenswertes ist und ganz und gar nicht normal, aus der Gewöhnung an all das erleben wir, wie wir an Sicherheit und Stabilität verlieren. Ich halte es für gut möglich, dass wir keinen solchen Stabilitätsverlust erleben werden wie vielfach befürchtet, dass die tatsächliche Stabilität unseres Lebens noch lange vergleichsweise hoch ist. Aber es ist leichter auszuhalten, aus geringer Stabilität in eine höhere zu marschieren, als aus großer Stabilität abwärts zu müssen. Selbst wenn in beiden Fällen das Ergebnis das gleiche ist. Der Verlust macht große Angst. Und Angst macht auch die Frage: Was fällt denen noch alles ein?
Mein Vater ist schwer erkrankt, als ich dreizehn war, wir haben ihm neun Jahre lang beim Sterben zugesehen, wobei er sich stückweise selbst verloren hat, als würde Schicht um Schicht einfach abgerissen. Als ich fünfzehn war, wollte mich jemand vergewaltigen und danach erstechen, er hat mir das Messer gezeigt und es mir angekündigt. Ich habe ein gewisses selbstverständliches Sicherheitsgefühl nie richtig entwickeln können und diesen Mangel wohl mit einem gewissen Fatalismus gekontert. Ich habe eh ständig Angst um alle, die ich liebe, jeden Tag. Ich schätze jede Sekunde, die wir miteinander verbringen (außer, ich bin gerade müde, sauer, gereizt und dumm, dann vergesse ich mitunter, wie gut ich es habe).
Gestern habe ich gedacht: Für mich ist der Abstieg aus der comfort zone vielleicht nicht so groß wie für viele andere. Statistisch ist die Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, nahezu nichtig. Die Destabilisierung, die sie damit erzielen, diese armseligen Geschöpfe, bleibt abzuwarten. Diese Destabilisierung jedenfalls findet zuallererst in unseren Köpfen statt, ehe sie sich statistisch wirksam manifestiert.
Jede Sekunde meiner Angst ist eine Sekunde, in der sie von mir bekommen, was sie wollen.
Fuck you, IS. Ehrlich. Wir sterben alle mal, das ist nicht das Schlimmste, was uns zustoßen kann. Wie wir leben ist viel entscheidender als die Frage, wann und wie wir sterben. Ich werde mich von verirrten, gewalttätigen Idioten nicht zu einem Menschen machen lassen, der ich nicht sein will. Ich schenke ihnen so wenige Sekunden wie nur möglich, den blöden Affen. Sie sind auch nicht schlimmer als Krebs, ein Tsunami oder ein in ungünstigem Moment aus dem Fenster fallendes Klavier.
Wir leben in einer sehr privilegierten Zeit an einem sehr privilegierten Ort, Nina. Heute und wahrscheinlich noch eine ganze Weile. Vielleicht noch länger, als wir jetzt zu hoffen wagen. Lass es uns bei aller Furcht, dieses Privileg zu verlieren, genießen. Wenn wir uns von der Angst verschlucken lassen, verlieren wir das, um das wir fürchten, lange vor seiner Zeit. Was für eine Verschwendung. Man kann mit der Angst leben lernen und trotzdem in vollen Zügen genießen, was man hat. Denn in der Sekunde, in der man lebt, lebt man, was in der nächsten Sekunde auch geschehen mag. Wir wissen es ja doch nie mit Sicherheit.
Ich habe ein so tiefes Vertrauen in Deine Tapferkeit, in Deinen Verstand, in Deinen Pragmatismus. Sei fest umarmt. Deine Kinder sind bei Dir gut aufgehoben.
Eine jetzt ins Bett hastende
Maike